BRODEKS SCHWIMMENDE ERDBEEREN

Grüner ist es geworden in den Städten. Und röter. In kurzer Zeit haben Bahnhöfe, Industriegebiete, Hausdächer einen großen Teil ihres Grauschleiers verloren. Lange war ich froh, daß kaum jemand wußte, welchen Anteil ich an der Geschichte hatte.
Ich traf Brodek das erstemal bei einer Diskussionsveranstaltung über die Gefahren der Gentechnik. Er war Genetiker und saß auf dem Podium, wo er wüste Anschuldigungen ruhig und geduldig über sich ergehen ließ. Dabei argumentierte er sehr differenziert: natürlich sei es nicht ungefährlich, mit Genen einfach ziellos zu experimentieren und die Entwicklung von Biowaffen lehne er überhaupt völlig ab. Man müsse sich aber vergegenwärtigen, was die Gentechnik der Menschheit zu bieten habe: Pflanzen, die keine Insektizide bräuchten, Pflanzen, die man in der Wüste anbauen und mit Meerwasser gießen könne, Pflanzen, die oben Tomaten und unten Kartoffeln trügen und so viel weniger Feldfläche verbräuchten...
Die anderen Diskussionsteilnehmer gingen auf seine Argumente nicht ein. Brodek machte einen guten Eindruck auf mich, obwohl er um seine Lage wirklich nicht zu beneiden war. Man hatte ihn ganz offensichtlich eingeladen, um ihn auf offener Bühne auseinander zu nehmen. Man hätte an seiner Stelle ebensogut einen Punchingball aufstellen können, auf den man ungestraft einschlagen kann - oder eine Plastikpuppe, wie man sie bei simulierten Verkehrsunfällen benutzt.
Zwar war ich selbst zu dieser Veranstaltung gekommen, weil ich mit Gentechnik eher Befürchtungen als Hoffnungen verband. Aber das fand ich nicht fair.
Nach der Podiumsdiskussion sprach ich Brodek an. Das war nicht leicht, da er immer noch von wütenden Mitmenschen umringt wurde. Ich teilte ihm mit, daß ich zwar nicht seiner Meinung sei, aber die Ruhe und Sachlichkeit bewunderte, mit der er diese für ihn höchst unangenehme Situation überstanden hatte. Er bedankte sich und wollte wissen, in welchen Punkten ich denn nicht seiner Meinung sei. Ich hatte den Eindruck, er war froh darüber, einen "vernünftigen" Menschen gefunden zu haben. Vielleicht hatte ihm das Ganze mehr ausgemacht, als er sich hatte anmerken lassen. Er sagte mir, sein Zug führe erst in zwei Stunden und hier wolle er nicht bleiben. Ob ich nicht einen Ort wüßte, an dem es etwas ruhiger sei. So gingen wir in ein Café und unterhielten uns weiter. Er erzählte mir von seinen neuesten Projekten. Er arbeite nur mit Pflanzen und nur an zivilen Projekten, versicherte er mir mit ehrlichem Engagement. Bevor er sich verabschiedete, lud er mich ein, ihn in seinem Institut zu besuchen.
Zwei Wochen später rief er an und sagte, er habe am Wochenende an seiner Arbeitsstelle zu tun und könne sie mir bei dieser Gelegenheit zeigen, wenn ich Zeit und Lust hätte. Ich sagte zu und fuhr am folgenden Sonntag zu seinem Institut.
Ich hatte es mir anders vorgestellt: überall standen große und kleinere Glaskästen, in denen Verschiedenes wuchs. Im größten dieser Kästen wuchs ein Kornfeld unter künstlichem Sonnenlicht. Dann betraten wir ein riesiges Gewächshaus. Dort befand sich das neueste Schmuckstück aus Brodeks Arbeiten, wie er selbst sagte: eine kleine Kolonie kräftiger Erdbeerpflanzen, die jede für sich aus kleinen Plastikbehältern wuchs.
Sie sahen wie gewöhnliche Erdbeeren aus. Zumindest ich als Nichtfachmann sah keinen Unterschied. Um so interessanter war aber das, was Brodek mir erzählte. Bei diesen Exemplaren könne man fast das ganze Jahr über in rascher Folge ernten, erstmals schon wenige Wochen nach der Aussaat - man könne sie neben der Vermehrung durch Ausläufer auch säen, was bisher bei Erdbeeren schwierig gewesen sei. Die Pflanzen bräuchten keine Insektizide, weil sie besonders widerstandsfähig seien. Außerdem bräuchten sie keine Dünger und faktisch keine Erde, unter anderem weil sie in der Lage seien, den Stickstoff aus der Luft aufzunehmen. Wichtige Spurenelemente würden sie aus dem Wasser gewinnen, von dem sie aber auch nur wenig bräuchten. Brodek begeisterte sich: "Salzwasser ist ihnen ebenso lieb wie anderes! Deshalb muß man kein Trinkwasser verschwenden, um sie zu wässern" und ergänzte, dass man sie auch als Wasserpflanzen anbauen könne, da sie schwimmen würden. Er hatte keine Mühe gescheut: Eigenschaften von Rankpflanzen wiesen sie ihm zufolge ebenfalls auf.
Brodek erklärte, alle diese neuen Merkmale habe er seiner Kreation mit Hilfe der Gene anderer Pflanzen verliehen, das eigentlich Interessante jedoch sei die Kombination und die Verträglichkeit all dieser Eigenschaften.
Das allerschönste aber war seiner Meinung nach ihr hervorragender Geschmack. "Die erste Ernte der neuen Generation! Und Sie dürfen als erster probieren!". Er reichte mir eine große, rote Frucht. Ich zögerte einen Augenblick, konnte dann jedoch nicht widerstehen. Sie schmeckte tatsächlich sehr gut.
Was er nun mit diesen Erdbeeren vorhabe, fragte ich ihn. Er zuckte mit den Schultern und erklärte mir mit sichtlichem Bedauern, daß die Zeit für seine Beeren wohl noch nicht reif sei. Im Moment seien sie nicht viel mehr als ein Demonstrationsobjekt.
Anschießend zeigte er mir noch verschiedene Projekte seiner Kollegen, an manchen war er beteiligt. Den meisten Pflanzen sah man nicht an, daß sie genetisch verändert waren. Die auffälligsten Arten zeigte mir Brodek kurz bevor wir uns voneinander verabschiedeten: einen kleinen Bananenbaum, der bei mitteleuropäischem Klima gedieh und einen drei Meter hohen, mehrere Jahre alten Tomatenbaum mit dickem Stamm.
Am nächsten Tag teilte man mir an meiner Arbeitsstelle mit, die Auftragslage meines Unternehmens ließe es günstig erscheinen, wenn die Arbeitnehmer ihre Überstunden abfeiern würden oder Urlaub nähmen. So entschloß ich mich spontan, in den Urlaub zu fahren.
Als ich erholt zurückkehrte, war mein Anrufbeantworter voller Anrufe, aus meinem Briefkasten quollen die Briefe - und aus meiner Toilette Erdbeerpflanzen.
Anrufe und Briefe waren fast alle von Brodek. Ich hatte ihm nicht mitgeteilt, daß ich in den Urlaub gefahren war und er hatte offenbar verzweifelt versucht, mich zu erreichen. Samen von seinen Erdbeeren waren ins Freiland gelangt, und er hatte den "begründeten Verdacht", daß auch ich zu ihrer Verbreitung beigetragen hätte. Die Erdbeersamen würden nach der Verdauung unversehrt ausgeschieden. Ich solle mich sofort melden. Man könne jetzt vielleicht noch etwas machen. Er klang sehr beunruhigt.
Zuletzt hatte er mir ein großes Päckchen geschickt, das ich bei der Post abholte. In dem beiliegenden Brief verabschiedete er sich und erklärte, er würde für unbestimmte Zeit an einen unbestimmten Ort verreisen. Das Päckchen enthielt eine starke Säure, die Erdbeerpflanzen abtöten sollte. Ich goß sie in meine Toilette. Es stank und qualmte, die Pflanzen lösten sich auf. Das beruhigte mich etwas.
Trotzdem hatte ich kein gutes Gefühl bei der Sache und bald auch ein schlechtes Gewissen. Ich hätte mich gleich bei Brodeks Institut oder anderen Fachleuten melden sollen. So hoffte ich nur, alles würde so schlimm schon nicht sein. Schließlich ging es nur um Erdbeeren.
Es vergingen Wochen, in denen ich von Brodek nichts hörte - ich hörte überhaupt nie wieder etwas von ihm. Von seiner Schöpfung aber tauchten nach und nach Berichte auf, zunächst im Unterhaltungsteil mancher Nachrichtensendungen. Es waren Berichte über eine rätselhafte Erbeerplage, die sich, ausgehend von den beiden ersten meiner Urlaubsorte, bald an vielen verschiedenen Orten ausbreitete. Ein Teil der Erdbeeren wuchs im Meer, am Anfang da, wo wahrscheinlich eines der Hotels, die ich besucht hatte, illegalerweise seine Abwässer einleitete.
Allen meiner Mitmenschen kamen diese Nachrichten skurril vor - außer mir. Manche fanden es sogar lustig oder gut und forderten kostenlose Erdbeeren für alle.
Die sollten sie bekommen:
Die Erdbeeren verbreiteten sich mit rasender Geschwindigkeit. Heimkehrende Touristen oder Geschäftsreisende halfen ihnen dabei, außerdem Vögel und andere Tiere.
Die Kläranlagen der Städte waren oft mit zuerst betroffen, dort konnte man die Pflanzen aber auch noch recht gut bekämpfen.
Man setzte ein Gerücht in die Welt, die Erdbeeren seien ungesund. Wie man bald darauf zugeben mußte, wußte man nichts über ihre Wirkung auf die Gesundheit. Man hatte gehofft, durch das Gerücht die Verbreitung der Erdbeeren durch Verzehr und Ausscheidung zu stoppen. Es war zu spät.
Bereits im nächsten Jahr wuchsen die Erdbeeren fast überall. Sie überquerten von meinen Urlaubsorten am Mittelmeer aus mühelos die bald fast vollständig bedeckten Alpen.
Es wurden Bürgertrupps aufgestellt, die den ganzen Tag Erdbeerpflanzen ausrissen. So versuchte man auch, wenigstens Teile der natürlichen Fauna und Flora zu retten oder noch ein paar andere Pflanzen anzubauen. Aber für jeden Ort, an dem man sie ausgerissen und verbrannt hatte, tauchten sie an fünf neuen Orten auf. So konzentrierte man sich schnell auf bestimmte Orte, kleinere Waldgebiete wurden sogar eingemauert. Der Rest wurde sich selbst und damit den Erdbeerpflanzen überlassen. Brodek hatte ganze Arbeit geleistet.
Die Beeren wuchsen auf Autodächern, in Hinterhöfen, auf den Straßen, auf Baumkronen, aus Waschbecken, Toiletten und natürlich dort, wo anderes wachsen sollte. Sie machten sich als dichter Teppich auf Hausdächern breit und rankten sich die Wände entlang. Die Straßen verwandelten sich zusehends in schimmelnde Komposthaufen, in schleimige Schlitterbahnen mit vernetzten Auslegern bis in mehrere Meter Höhe und herabfallenden matschigen Erdbeeren.
Auch der Versuch einzelner Länder oder Regionen, sich abzuschotten, erwies sich als sinnlos: die Erdbeeren verbreiteten sich über das Meer als weltumspannender Vegetationsteppich, der schon bald selbst der Schiffahrt neue Technologien aufzwang und das Satellitenbild des gesamten Planeten änderte.
Dschungelmesser gehören seitdem zur Standardausrüstung. Ohne sie ist es kaum noch möglich, sich zu bewegen, draußen nicht, aber auch in der eigenen Wohnung braucht man sie oft genug. Alles ist verklebt und der faulende, gärende Geruch hängt überall, so daß man ihn kaum noch wahrnimmt. Jeder sehnt sich nach dem Winter, weil es nur dann manchmal etwas besser ist.
Der Geschmack von Erdbeeren ist heute jedem ein Greuel. Andere Lebensmittel sind unerschwinglich geworden, und alles, was man mit Erdbeeren machen kann, hängt jedem zum Hals raus. Konserven und Einmachgläser aus der Zeit vor der Katastrophe sind daher eine Kostbarkeit. Auch ich hatte davon noch einige im Keller, die ich nach und nach verbraucht habe - bis auf ein unbeschriftetes Glas mit roter Marmelade. Ich habe es lange aufgrund eines Verdachts nicht angefaßt, der sich heute bestätigt hat: es ist Erdbeermarmelade.

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