LUISA UND JOHANNES REDEN NICHT ÜBER SICH

Luisa und Johannes haben sich vor wenigen Stunden in der Straßenbahn kennengelernt. Jetzt sitzen sie zu zweit an einem kleinen Tisch in einem Cafe und unterhalten sich. Es ist nicht zu übersehen, dass sie einander gefallen. Aber entschieden ist noch nichts.
Luisa sitzt zur Mitte des Raumes hin. Sie isst ein Stück Obstkuchen und betrachtet Johannes: er sitzt mit dem Rücken zur Wand und hat ein Stück Schokoladenkuchen vor sich. Er ist wie Luisa 19 Jahre alt, groß, schlank, dunkelhaarig und unauffällig gekleidet. Er raucht nicht und lehnt Drogen ab, soviel weiß Luisa bereits. Auch liest und verreist er gerne. Er macht sich viele Gedanken um die Zukunft. Johannes sieht Luisa in die Augen. Sie hat knallrot gefärbte Haare. Offenbar mag sie eng anliegende Kleidung, ohne viel Haut zu zeigen. Sie ist mittelgroß, sportlich und geht gerne tanzen, wobei sie auch mal eine Zigarette raucht und Alkohol trinkt. Sie mag Heavy Metal. Johannes eher nicht.
Luisa und Johannes unterhalten sich scheinbar beiläufig über die Liebe. Luisa sagt: „Mein letzter Freund hat mich seinen Eltern vorgestellt, wie die künftige Schwiegertochter. Ganz plötzlich, er hat mich nicht einmal gewarnt! Also, wenn ich merke, dass ich so verplant werde, dann … Ich habe ihm gesagt: Ich will etwas vom Leben haben, solange ich noch jung bin. Wenn ich mit einem Mann zusammen bin, heißt das nicht, dass er mich besitzt“. Sie piekst mit der Gabel in die Luft.
Johannes antwortet: „Das war natürlich nicht sehr geschickt von ihm. Aber denkst du, wie eine Biene von Blümchen zu Blümchen zu fliegen macht auf Dauer glücklich?“ Er tut derweil so, als sei seine Gabel die Biene und „fliegt“ damit zwischen Luisas und seinem Kuchen hin und her.
Luisa lächelt, dann seufzt sie und sagt: „Manchmal denke ich, nach ein paar Wochen ist die erste Verliebtheit sowieso vorbei, dann setzen Alltag und Langeweile ein. Oft hat man sich dann gar nichts mehr zu sagen, sogar die Witze wiederholen sich nur noch. Und wir haben nur ein Leben“. Johannes erwidert: „Ob eine Beziehung glücklich bleibt, hängt davon ab, wie viel man dafür tut und wie wichtig beiden die Beziehung ist. Viele haben sich nur deshalb nichts mehr zu sagen, weil sie zusammen nichts Neues unternehmen und erleben. Es gibt Paare, die sehr lange zusammen sind und sich trotzdem vermissen, wenn man sie auch nur einen Tag trennt. Meine Eltern zum Beispiel“.
Luisa sagt: „Schön für sie. Und für Dich. Meine Mutter wurde wegen einer Jüngeren von meinem Vater verlassen. Sie hat alles für die Beziehung getan, auch wenn er für sie nicht gerade das große Los war. Es gibt keine Sicherheit. Wenn das, was der andere zu bieten hat, den Reiz des Neuen nicht mehr hat, dann geht man besser. Und so mache ich das eben“.
Johannes antwortet: „Ich bin einmal nach wenigen Wochen mit einer ähnlichen Begründung verlassen worden. Ich war sehr traurig, meine Lebensfreude war lange ziemlich weg. Das haben alle gemerkt. Sogar meine Leistungen in der Schule ließen nach. Wenn ich die Wahl hätte, ob mir jemand ein Bein oder auf diese Weise das Herz brechen soll, würde ich das Bein wählen. Obwohl das Körperverletzung wäre. Für mich ist es schlimmer als Körperverletzung, wenn man jemandem das Herz bricht und das von vorneherein weiß“.
Luisa erwidert: „Ich verstehe, was du meinst. Es tut mir ja auch leid, wenn deshalb jemand Kummer hat. Dafür kann ich aber nicht wirklich etwas, weil ich immer gleich sage, wie ich die Dinge sehe“. Johannes sagt: „Ja, du bist ehrlich. Andere lügen ja schon, nur um jemanden ins Bett zu kriegen. Aber das klingt trotzdem so, als ob du ganz schön gefährlich wärst“.
Luisa sagt schnell: „Vielleicht treffe ich mal einen, bei dem es anders ist. Aber vorher möchte ich keine faden Kompromisse machen“.
Johannes antwortet: „Hm, aber genau das ist vielleicht das Problem. Wenn sich jemand wirklich in dich verliebt, wird er hoffen, dich umzustimmen und dieser eine Mann zu sein. Und du wirst dann vielleicht trotzdem sein Herz brechen“.
Luisa und Johannes bezahlen und verlassen das Cafe. Auf dem Weg nach draußen fallen beide beinahe über Tische und Stühle, weil sie nur Augen füreinander haben.


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